"Ich hörte, dass es in der Welt mehr Zeit als Verstand gibt, aber dass uns die Augen zum Sehen gegeben sind." - Ingeborg Bachmann
„Die gestundete Zeit“, 1953 erschienen, begründete Ingeborg Bachmanns Ruhm als eine der größten Dichterinnen der europäischen Moderne. Sämtliche vollendeten Gedichte, von der frühen Lyrik bis zur „Anrufung des Großen Bären“, bilden den Kern ihres facettenreichen Werkes und gehören zu den großen dichterischen Leistungen des 20. Jahrhunderts.
"Seit Gottfried Benn hat es im deutschen Sprachraum kein lyrisches Talent gegeben, an dem sich die Grundbedingung dichterischer Existenz überzeugender bewahrheitet hat als an Ingeborg Bachmann." Günter Blöcker, Frankfurter Allgemeine
Ingeborg Bachmann, am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren. Lyrikerin, Erzählerin, Essayistin. 1952 erste Lesung bei der Gruppe 47. Preise: Bremer Literaturpreis, Hörspielpreis, Georg-Büchner-Preis, Großer Österreichischer Staatspreis, Anton-Wildgans-Preis. Sie lebte nach Aufenthalten in München und Zürich viele Jahre in Rom, wo sie am 17. Oktober 1973 starb.
Die gestundete Zeit
Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald musst du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.
Auszug aus dem Gedicht „Die gestundete Zeit“ von Ingeborg Bachmann
Musikalische Umrahmung: Gustav Mahler, Symphonie Nr. 5